Der Großvater - meines Vaters Vater - mitsamt Frau und Tochter war nach der Vertreibung wieder gefunden. Da er meinem Vater ein Studium ermöglicht hatte, erwartete er nun - im Sinne einer Geste der Dankbarkeit und Kindespflicht - die Aufnahme der Familie in der Familie des Sohnes. An sich nichts Anstößiges.

Doch sein Sohn wusste, dass der Vater im sexuellen Bereich "etwas seltsam" war. Es war ihm bekannt, dass der Vater sich nicht mit der Ehefrau - die nahezu jedes Jahr schwanger war, wenngleich auch nicht alle Kinder überlebten - begnügte, sonder sich andernorts mit anderen Frauen vergnügte. Die Ehefrau stellte schon keine Dienstmädchen mehr ein, weil sie wusste, dass diese Mädchen dann auch ihrem Mann zu "dienen" hatten. Und diesen Mann holte der "dankbare" Sohn in eine 4-Zimmer Wohnung, in der er bereits mit seiner Frau, deren Schwester und den eigenen vier Kindern lebte. So waren es nun also zehn Personen. Nach Auffindung einer anderen Wohnung für den Vater klagte dieser, er fühle sich so alleine, ob man ihm nicht ab und an eines seiner lieben Enkelchen zu Besuch schicken könnte. Ich war die "Erwählte". Als ich mich nach einem halben Jahr bei meinen Eltern beschwerte, wurde ich fortan als Lügnerin behandelt und war somit auch aus der Familie ausgeschlossen. Mein einziges zu Hause waren fortan meine Gedanken, einsame Verstecke, wo mich niemand vermutete und deshalb niemand fand, und - sobald ich lesen konnte - meine Bücher, die ich dutzendweise verschlang, um mich aus dieser Welt abzuseilen. Aber Großvater wollte eben immer wieder besucht werden. Ich lernte die Tatsache  weiblich zu sein zu hassen, ehe ich lesen und schreiben lernte. Auch ein Umzug brachte nur temporäre Linderung. Erstens waren da schon sechs Jahre vergangen, in denen ich immer wieder den "lieben" Großvati besuchen "durfte", zweitens wurde der Großvater natürlich besucht oder kam zu Besuch zu uns, und dann gab es immer eine Möglichkeit, mir irgend etwas im Garten oder sonst im Hause zeigen zu müssen. Und da mir niemand glaubte und es niemanden interessierte, so hatte ich eben zu gehorchen, hatte "erfreut" mitzugehen und durfte mir nicht anmerken lassen, dass Anderes geschah, was nicht gesagt war. Allerdings hatte ich mich damals schon so weit von mir selbst entfernt, dass ich mich vollkommen von mir verabschieden konnte und dann  nicht mehr fühlte, was mir geschah. Ich sah es zwar und hörte es, ich roch es und ich spürte es. Aber wirklich "wahrgenommen" habe ich es nicht mehr. Das hatte ich gelernt. Und deshalb steht mein Name nicht auf einem der Grabsteine, auch wenn es manchmal verdammt hart war, der Versuchung des Todes zu widerstehen.

Vater unser ....     wo bleiben die Mütter, die Töchter und die Schwestern? Das verfluchte Patriarchat mit seinem Anspruch der Macht über Leben und Tod hat die Welt in eine Angst gestürzt, die weiß, dass sie auf den Spitzen der Atombomben lebt. Und die Frauen leben in der "Furcht des Herren!" und werden immer noch dazu erzogen, diesem untertan zu sein. Möglicherweise haben die Männer deshalb so große Angst vor dem Matriarchat, weil sie fürchten, dass ihnen dann die Frauen das antun würden, was sie bisher - zumeist im Rahmen der Familie ungestraft - den Frauen angetan haben. Da sie das aber ganz genau wissen, ist ihre Angst nachvollziehbar!

N.N. Ich hoffe, ihr versteht das.

 

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