Dr. Katharina Koch
Projektleitung und Künstlerische Leitung von alpha nova-kulturwerkstatt & galerie Futura Weibliche Visionen in Kultur Politik und Kunst e.V., Berlin

„noch immer – immer noch“

 

ist der Titel des ersten Einzelkatalogs der Künstlerin Renate Bühn, die sich in ihren Arbeiten mit sexualisierter Gewalt gegen Mädchen* und Jungen* zwischen familiärer  Alltäglichkeit und gesellschaftlicher Marginalisierung beschäftigt. Der Titel verweist sowohl auf die Kontinuität sexualisierter Gewalt sowie auf ihr gesellschaftliches Verdrängtwerden als auch auf die damit verbundene andauernde Relevanz des Themas und der daraus resultierenden Konsequenz, mit der die Künstlerin seit 20 Jahren Sichtbarkeiten und Öffentlichkeiten dafür in ihren Werken schafft.
Familie, Kirche oder Kriegsgeschehnisse sind nur einige zentrale Kontexte, in denen sexualisierte Gewalt jahrelang, oftmals verdeckt und ungesühnt, geschehen kann. Die Täter_innen werden meist geschützt – konkret durch die eigene Familie, generell durch gesellschaftliches Wegschauen und durch oft verharmlosende, sexistische Rechtsprechungen. Drohungen der Täter_innen, Angst, Schamgefühl, Ohnmacht und die Aussichtslosigkeit auf Veränderung, zwingen viele Betroffene zum Schweigen und ins Vergessenwollen als (Über-)Lebensstrategie. Andere hingegen sprechen. Sie machen jedoch die Erfahrung, dass ihnen oftmals nicht geglaubt wird, ihr Sprechen ignoriert wird, ihre Signale nicht wahrgenommen werden oder sie sich durch den Bruch des Schweigens mit der Stigmatisierung auf vorherrschende Opferbilder auseinandersetzen müssen. Das bedeutet einen zusätzlichen emotionalen Kraftakt, ohne dass sie davon ausgehen können, dass der/die Täter_innen wirklich bestraft und im Falle der Familie tatsächlich ausgeschlossen werden würden.
Mit welchen Bildsprachen kann sich die Kunst dem komplexen Themenkomplex nähern? Dieser beruht zwar auf unzähligen Einzelschicksalen, persönlichen Erfahrungen und Geschichten, letztendlich verweisen diese jedoch verdichtet auf die dahinterstehende gesellschaftsstrukturelle Problematik, da eine breite öffentliche Wahrnehmung, Auseinandersetzung und ein entsprechend entschiedenes Handeln bis heute obsolet sind.
Es gilt also eine künstlerische Sprache zu finden, die nicht in einem alleinigen Aufarbeitungsprozess verharrt, sondern die den Opferstatus verlässt und stattdessen die dringende und drängende politische Dimension in den Blick nimmt, nach Querverbindungen und Überlagerungen fragt und durch ihre Konsequenz sichtbar macht, anklagt und in sich fortsetzende strukturelle Sexismen und patriarchale Strukturen in unseren angeblich emanzipierten Gesellschaften interveniert. Dabei kann sie – je nach Interaktion mit den Rezipient*innen  – eine Resonanz entwickeln, die agency (Handlungsfähigkeit) ermöglicht.
Welche Funktion kann Kunst in diesem Zusammenhang einnehmen; wie kann sie mehr als nur Mittel zum Zweck sein? Welche Potenziale besitzt sie?
Renate Bühn, selbst Betroffene sexualisierter Gewalt, war bereits jahrelang in der politischen Selbsthilfe und Öffentlichkeitsarbeit engagiert, bevor sie zur Kunst kam. Weil die gesprochene Sprache nicht mehr ausreichte und keinen Sinn mehr für sie machte, suchte sie in der Kunst nach anderen Ausdrucksmitteln, um Sichtbarkeiten zu schaffen. Künstlerische Zugänge sind vielschichtig. Sie sprechen unterschiedliche Sinne und Wahrnehmungsebenen an, sind durch ihre Visualität unmittelbarer als Worte und entziehen sich gleichzeitig eindimensionalen Bedeutungszuweisungen.
Renate Bühn bedient sich in ihren Rauminstallationen, ihren Werk-Zyklen und Objekten, ihrer Malerei und ihren partizipativen und interaktiven Projekten einer meist radikalen, schonungslosen und teils auch irritierenden Bildsprache. Sie nutzt Alltagsgegenstände wie Krawatten, Hemden, ein Schaukelpferd, Frühstücksbretter, Stecknadeln, Taschenkalender, die für den thematischen Zusammenhang jeweils eigene symbolische Bedeutungen aufweisen. In ihrer künstlerischen Kontextualisierung, die meist auch Textfragmente beinhaltet, werden die Gegenstände ihrer scheinbaren Harmlosigkeit und Unschuld enthoben.
So verwendet die Künstlerin in ihrer frühen Arbeit „Krawattenbuch“ (1998) das männlich konnotierte Symbol der Krawatte, welches sowohl als Zeichen der Macht als auch der gutbürgerlichen Normalität gelesen werden kann. Sie beklebt die auf Fleischerhaken gehängten Kleidungsstücke mit Textausschnitten wie „Kindheit“ oder „ganz normale Familienväter“, die ebenfalls Normalität suggerieren, es jedoch nicht sind. Vielmehr verweisen sie auf die alltägliche Bedrohung in der Familie durch die meist männlichen Täter und das bewusste und gesellschaftlich praktizierte Wegschauen. Eine weitere Position, die den alltäglichen Missbrauch in der Familie fokussiert, ist „Frühstück mit Papi“ (1999): Mit toten Fliegenleibern übersäte Brötchenhälften werden zum Sinnbild für den Schrecken und den unausgesprochenen Ekel, mit dem sich betroffene Kinder jeden Tag aufs Neue in engster und unvermeidbarer Anwesenheit des Täters konfrontiert sehen. In der Arbeit „Schweigen ist tödlich“ (2001) wird das rosa Schaukelpferd, Symbol beschützter Kindheit, zum entfremdeten Zeichen: der Schaukelvorgang assoziiert in seiner scheinbaren Unschuld eher den sexuellen Übergriff, der in seiner Verharmlosung umso tiefer verstört. In Renate Bühns Werk wird das Schaukeln irritierend mechanisiert und zeugt von Störung und Gewalt. Zwei leere Stühle im Hintergrund verweisen auf die stumme Mittäter*innenschaft derjenigen, die zwar wissen, aber nicht eingreifen.
In ihren jüngeren Werken beschäftigt sich Renate Bühn mit sexueller Gewalt in der katholischen Kirche sowie dem unverhohlenen Täterschutz in diesem Kontext. Seit 2014 entwickelte sie mehrere Arbeiten, für die sie Lavabotücher, christlich-katholisches Symbol der Reinheit und des Reinwaschens, mit Stecknadeln besetzt. Stecknadeln, die sich in der Arbeit „Lavabo inter innocentes manus meas“ (2014) zu einem lateinischen Unschuldsbekenntnis formieren und gleichzeitig als Nadelstiche sowohl zum Zeichen des andauernden Leidens der Betroffenen werden als auch zur Aufforderung an Kirche und Gesellschaft, hinzugucken, öffentlich zu machen, einzugreifen. Auch in anderen Positionen wie „Beichte und Gebet“ (2014) sowie „Er sagte, wir seien jetzt in Liebe verbunden“ (2014) nutzt die Künstlerin zu Sätzen formierte Stecknadeln, die Aussagen aus dem Abschlussbericht der Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für Opfer sexuellen Missbrauchs (2010-2012) zitieren.
Nicht nur die verfremdeten (Alltags-)Gegenstände verweisen auf ihren jeweils symbolischen Gehalt, der durch die Neukontextualisierungen der Künstlerin zugleich enthebelt und ad absurdum geführt wird. Auch die Farbgebung von Renate Bühns Installationen, Objekten und Arrangements – vernehmlich weiss, rot und rosa – zeugt von gesellschaftlichen Konnotationen, die in ihrer spezifischen Verwendung jedoch als Illusion und gar gefährliche Täuschung entlarvt werden:
Weiss ist Synonym für Unschuld, Reinheit, aber auch Unversehrtheit. Rot steht für Gefahr und Gewalt. Rosa, die Mischung aus beiden, verweist als konnotierte Mädchenfarbe auf die unbeschwerte Zeit der Kindheit.
Die verwendeten Medien der einzelnen Werke ergeben sich aus den stets vorangehenden Recherchen Renate Bühns, bevor sie sich den verschiedenen Aspekten des Themenkomplexes nähert. Jeder Schwerpunkt verlangt nach einer neuen Suche nach Materialitäten, die die Künstlerin für die jeweilige Auseinandersetzung für stimmig hält.
Bei ihren Recherchen geht sie sehr akribisch vor. Von ihr verwendete Zahlen, Statistiken und Hard Facts sind immer wissenschaftlich belegt. In vielen Werken bilden sie einen nüchternen Kontrast zur visuellen Umsetzung, die sich den Themen vielschichtiger, symbol- und empfindungsreicher nähert, dabei jedoch keinesfalls realitätsferner ist. Arbeiten wie „2000 = 100 = 15 = 3 = 10 = 2“ (1999) und „9.250.000“ (2014) beziehen sich unmittelbar auf Opfer- und Täter_innenzahlen, auf gerichtliche Verurteilungen und Freisprüche sowie ihrer unverhältnismäßigen Relation.
Von Beginn ihrer künstlerischen Tätigkeit an verlässt Renate Bühn immer wieder den geschützteren Raum des Kunst- und Ausstellungsortes und begibt sich mit ihren Arbeiten in den öffentlichen Außenraum, sucht die Konfrontation, den Austausch und die Interaktion mit den Menschen. Eine Wahl, die eigentlich keine ist, da sie hinsichtlich der gesellschaftlichen Dringlichkeit des Themas selbstverständlich erscheint.
„geHEIMnis“ (seit 2001) löst als Lichtinstallation, projiziert an verschiedenen öffentlichen Orten, Irritation und Beklemmung aus. Ebenfalls als work-in-progress angelegt sind „Die Hemden der Vergewaltiger weiss“ (seit 2001) und „Die Bluse der Vergewaltigerin weiss“ (ab 2016). Weisse Hemden/Blusen stehen zumindest hierzulande als Zeichen für Unschuld und Reinheit. Bühn bedruckt sie in rot:  „weisse Fassaden – hinter weissen Vorhängen – an weissen Familientischdecken – die Hemden der Vergewaltiger weiss“. Sie übersetzt die Aussagen in verschiedene Sprachen und performt mit den gestalteten Kleidungsstücken im Außenraum. Durch die Unmittelbarkeit, der man sich schwer entziehen kann, stellt sie einen öffentlichen Raum des Widerspruchs her.
Ebenfalls an das Medium der Aktionskunst anknüpfend, fertigt die Künstlerin tragbare Schilder mit Zitaten aus dem Abschlussbericht der Hotline der Deutschen Bischofskonferenz. Zusammen mit anderen Betroffenen und Unterstützer*innen begibt sie sich 2016 im Rahmen des Katholikentags in die Leipziger Innenstadt, um das Gespräch mit Passant*innen und Besucher*innen des Katholikentags zu suchen.
„Ich werde nie wissen, welche ich gewesen sein könnte, davor“ (seit 2004) ist ein langfristig angelegtes partizipatives Projekt. Bereits um die 50 Frauen  haben Renate Bühn für die wachsende Arbeit in Texten und Gedichten ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt geschickt. Die Künstlerin füllt eine transparente Tülldecke als Teil einer Rauminstallation mit den Zeugnissen der Betroffenen. Der Vergänglichkeit entrissen, stehen die individuellen Geschichten als Mahnmal, zeugen von gesellschaftlichem Versagen, aber auch von Wut, Mut und Willensstärke.
Gespräch, Austausch, Diskussion, Text in Interaktion mit den visuellen Sprachen, die Renate Bühns Werke bereithalten, produzieren in ihrer Verschränkung einen Raum, der die persönlichen wie gesellschaftlichen Dimensionen sexualisierter Gewalt erfahrbar macht und an die eigene  Verantwortlichkeit appelliert. Das zentrale Anliegen der Künstlerin zieht sich dabei wie ein roter Faden durch ihr Gesamtwerk und spiegelt sich mal mehr mal weniger eindeutig in den einzelnen Arbeiten wider: Alltägliches Erinnern und Handeln ist notwendig, um sexualisierte Gewalt zu beenden.
Die Alltäglichkeit steht hier für eine stetige und konsequente Auseinandersetzung, wofür individuelle Geschichten und Erfahrungen zwar die Grundlage bieten, die jedoch das strukturelle Problem erfassen muss, um Veränderung im gesellschaftlichen Bewusstsein und Handeln herbeizuführen. Kunst ist hier eine wirkungsvolle Möglichkeit, Sichtbarkeiten zu schaffen. Sie besitzt durch ihre visuelle Sprache, die irritieren, berühren, betroffen, aber auch wütend machen kann, das besonderes Potenzial, verschiedene Bewusstseinsebenen anzusprechen. Kunst vermag die Ebene intellektuellen Begreifens sinnlich erfahrbar zu überschreiten und in eine erweiterte Dimension zu transformieren. In dieser transformatorischen Kraft liegt ihre unverwechselbare Basis für Veränderung im Denken und Handeln. Es ist noch viel zu tun. Renate Bühns Arbeiten tragen mit ihrer sich reproduzierenden Aktualität dazu bei, diese Basis zu schaffen.
Berlin, den 30.06.2017