Stadtrat Michael Frost, Dezernent für Schule und Kultur
Grußwort zur Eröffnung der Ausstellung am 19.08.18 in der Kulturkirche Bremerhaven
Eigentlich, so denkt man, kennt unsere aufgeklärte westliche Zivilisation keine Tabus mehr. Nichts, worüber nicht öffentlich, permanent, bis in die letzten Details informiert oder diskutiert wird. Der Auftrag öffentlich-rechtlicher Medien einerseits, andererseits die Möglichkeit für jede und jeden Einzelnen, mittels der digitalen Medien eigene Verbreitungskanäle für welches Thema auch immer zu realisieren, schaffen beste Voraussetzungen, gesellschaftliche Missstände aufzudecken und entsprechende Debatten auszulösen – eigentlich.
Und tatsächlich: Seit in den 1980er Jahren im Deutschen Bundestag erstmals – damals noch unter höhnischem Gelächter der konservativen Seite – gefordert wurde, die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen, haben wir Fortschritte gemacht, Fortschritte auch beim Schutz von Kindern, Jugendlichen, und nicht zuletzt auch beim Schutz geschlechtlicher oder sexueller Identität und Selbstbestimmung. Umso beschämender ist es, dass wir dennoch – trotz aller Öffentlichkeit – immer noch über ein Thema schweigen, das uns hier in dieser Veranstaltung sehr eindrücklich vor Augen geführt wird – die sexualisierte Gewalt gegen Mädchen, Jungen und Frauen.
Nun kann man einwenden, dass die Tabuisierung dieses Themas durch öffentliche Aktionen längst aufgehoben wäre. Man denke nur an die #metooKampagne, man denke an Kommissionen und Anhörungen zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Bildungseinrichtungen, im Bereich der Kirchen oder die Befassung mit manch ideologischem Abweg der 68-er Bewegung.
Letztlich ist auch das heute zu sehende Ausstellungsprojekt Beleg für eine öffentliche Auseinandersetzung – doch noch immer sind es vor allem die Opfer selbst, die ausgehend von der eigenen Ohnmacht eine Mauer des Schweigens durchbrechen müssen, und immer noch sprechen wir mehr über Aufarbeitung als über die Verhinderung von Gewalt.
So straft Renate Bühn die vermeintliche Offenheit in eindringlichen Worten und vor allem Bildern Lügen:
Jede und jeder kennt Opfer, sagt sie – und: Täter.
Die polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet für das Jahr 2016 in Deutschland über 12.000 Ermittlungs- und Strafverfahren allein nur sexuellen Kindesmissbrauch. Hinzu kommen Fälle von sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und Jugendlichen sowie etwa 7.000 Fälle wegen so genannter Kinder- und Jugendpornografie. Das, so sagt der Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, sei das Hellfeld. Das Dunkelfeld, der Bereich also, der nicht aktenkundig wird, sei weitaus größer.
Die Weltgesundheitsorganisation geht von rund 18 Mio. Minderjährigen aus, die in Europa von sexueller Gewalt betroffen sind. Das sind auf Deutschland übertragen rund eine Million Mädchen und Jungen. Das bedeutet, dass etwa 1 bis 2 Schülerinnen und Schüler in jeder Schulklasse von sexueller Gewalt durch Erwachsene betroffen sind.
Und so zeigt Renate Bühn uns – nicht dokumentarisch, sondern mit den Mitteln der Kunst: Gewohntes. Alltägliches – hinter weißen Vorhängen, an weißen Tischdecken, in weißen Hemden.
Vertraute Situationen, uns allen bekannt, Situationen, die Reinheit, Idylle symbolisieren, die aber eben auch als nahezu perfekte Tarnung der Gewalt und des Missbrauchs dienen können – immer noch, trotz allem, was wir wissen.
Der künstlerische Zugang durchbricht das Schweigen und findet eine eigene Sprache, die in unsere Stille einbricht und uns zum Hinsehen zwingt. Die Ausstellung, die Sie ab heute erleben können, enttarnt die mühevoll verdeckten Risse in unserer Gesellschaft und macht sichtbar, was sie zu verbergen sucht. In dieser Konfrontation mit unseren Tabus entsteht eine dringend notwendige Auseinandersetzung - und der Appell, wachsam zu sein.
Wir müssen nach den Opfern sehen.
Und wir müssen die Täter stellen.
Pastorin Andrea Schridde bin ich sehr dankbar, dass sie sich in der Kulturkirche des Themas angenommen hat. Dass sich so viele Kooperationspartnerinnen und -partner fanden, die diese Ausstellung fachlich und öffentlich begleiten, ist ermutigend.
Besonders wichtig erscheint mir das Begleitprogramm für unsere Pädagoginnen und Pädagogen, denn Wachsamkeit erfordert den geschulten Blick, den ich unseren Lehrerinnen und Lehrern, Sozialpädoginnen und Sozialpädagogen, Erzieherinnen und Erziehern wünsche.
Kunst, so sagte Paul Klee, Kunst ist nicht die bloße Wiedergabe des Sichtbaren.
Kunst macht überhaupt erst sichtbar.
Sehen wir also hin!