Rebecca
Protokoll zu Rebecca 30.12.1997
Lobby für Mädchen Mädchenhaus Köln e.V.
Beratungs- und Geschäftsstelle
Kaesenstr. 18 | 50677 Köln
An den Anfang stellen möchten wir ein Ereignis aus diesem Jahr, eine Geschichte, die uns besonders erschüttert hat und in der es doch gewiß im letzten Teil mit „rechten Dingen“ zugeht und bei der dennoch das Überleben eines Menschen gefährdet ist.
Wir möchten Ihnen einen Teil der Lebensgeschichte eines Mädchens, einer jungen Frau inzwischen, erzählen, die zu uns in die Beratungsstelle kam. Wir wollen sie hier Claudia nennen. Als Claudia noch ein Kind ist, mißbraucht ihr Vater sie zum ersten Mal. Auch ein anderer Verwandter und zwei Bekannte tun ihr sexuelle Gewalt an. Dies geschieht immer wieder, viele Jahre lang. In diesen Jahren entwickelt Claudia selbstverletzendes Verhalten, d.h. sie schneidet sich mit Scherben, Messern und anderen Gegenständen, was bei Mädchen mit sexueller Gewalterfahrung häufig vorkommt. Trotz ihrer eigenen Not hat sie auch Angst um 2 andere Mädchen, die in der Familie zur Pflege sind. Mit 17 Jahren sucht sie Zuflucht in einem Mädchenaufnahmeheim. Sie will von Zuhause weg und zugleich für den Schutz der Pflegeschwestern sorgen. Claudia wendet sich vom Aufnahmeheim aus an das Jugendamt und bittet um Hilfe. Die zuständige Sozialarbeiterin ist der Auffassung, daß nur bei Erstatten einer Strafanzeige gegen den Vater und die anderen Mißbraucher Hilfe für die beiden Mädchen und sie selbst möglich sei. Obwohl Claudia große Angst vor der Strafanzeige und dem Gerichtsverfahren hat, erstattet sie schließlich Anzeige. Sie lebt inzwischen in einem Heim und die Pflegeschwestern sind in einer Familie untergebracht. In dem Jahr, das zwischen Anzeigeerstattung und Prozeßbeginn vergeht, verschlechtert sich Claudias Gesundheitszustand immer mehr und es kommt zu mehreren Aufenthalten in der Psychiatrie. Nach den Ermittlungen durch die Kriminalpolizei erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Vater, den Verwandten, die Bekannten und die Mutter, da sie die Übergriffe ignoriert und ihre Fürsorgepflicht gegenüber der Tochter vernachlässigt habe. Vor Prozeßbeginn wird Claudia von einer Psychologin auf ihre Glaubwürdigkeit hin begutachtet und außerdem von einem Mediziner psychiatrisch untersucht. Diese Begutachtungen finden jeweils an mehreren Tagen statt und dauern einige Stunden. Der angeklagte Vater und die anderen Beschuldigten leugnen während des gesamten Verfahrens die ihnen zur Last gelegten Straftaten. Im Zusammenhang mit den Vernehmungen, den Aussagen vor Gericht und den zwei Gutachten erlebt Claudia immer wieder die Konfrontation mit der erlittenen sexuellen Gewalt und ihren damit verbundenen Gefühlen. Vor Beginn des Strafprozesses beginnt Claudia, die schon immer sehr zierlich war, eine ausgeprägte Magersucht zu entwickeln. Trotz alledem versucht sie mit Hilfe der Beraterin Hoffnung und Vertrauen aufzubauen und ihren Lebenswillen zu stärken. Das Bearbeiten der Gewalterfahrung ist kaum möglich, da im Verlauf des Gerichtsverfahrens überwiegend die Stärkung, bezüglich der aktuellen Situation im Vordergrund steht, die in Claudia ihre Erfahrung von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein neu belebt. Das Gericht befindet die Angeklagten für schuldig: der Vater wird wegen Vergewaltigung und Nötigung zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt, der Verwandte erhält drei Jahre und sechs Monate Jugendstrafe und die Bekannten erhalten eine einjährige Jugendstrafe auf Bewährung wegen Vergewaltigung und Freiheitsberaubung. Die Mutter erhält eine achtmonatige Bewährungsstrafe. Der verhandlungsführende Richter erklärt, daß die Kammer niemals Zweifel an der Richtigkeit von Claudias Aussagen gehabt habe. Auch die Gutachten hatten ihr Glaubwürdigkeit bescheinigt. Der Prozeß ist vorbei, die Angeklagten sind verurteilt worden, vielleicht kann jetzt für Claudia die Aufarbeitung beginnen, der Versuch, mit dem was nicht zu vergessen ist, dennoch zu leben und ein Stück Heilung der zugefügten tiefen Wunden zu erleben.
Einige Monate nach dem Ende des Prozesses hebt das Bundesverfassungsgericht das Urteil auf und ordnet die Neuaufnahme des Verfahrens wegen eines Formfehlers an. Ein neues Verfahren bedeutet für Claudia wieder aussagen, wieder in ihrer Glaubwürdigkeit begutachtet werden, weiterhin mit den Tätern konfrontiert werden, keine Möglichkeit Abstand zu nehmen, sich auf sich selbst und ihre Gesundung zu konzentrieren.
Nachdem Claudia den Termin für das neue Verfahren erfahren hat, verschlimmert sich ihre Magersucht. Aufgrund ihres lebensbedrohlich schlechten Gesundheitszustandes befindet Claudia sich zur Zeit wieder in einer Klinik.
Bis zum heutigen Tag hat keiner, der zu einer Haftstrafe verurteilten Männer, einen Tag in Haft verbracht.
Es gibt vieles in Claudias Geschichte was sehr typisch ist für das, was Mädchen erleben, wenn ihnen sexuelle Gewalt angetan wird: die zerstörerische Brutalität der Täter, die Ignoranz der Mutter, die Gefährdung weiterer Mädchen, die Belastung durch das Ermittlungsverfahren, die Begutachtungen und den Prozeß. Dabei können die Vernehmungen durchaus einfühlsam geführt werden, die GutachterInnen äußerst qualifiziert und die RichterInnen wahrhaft offen sein und über fundiertes Wissen zum Prozeßgegenstand verfügen. Was uns so sehr erschüttert ist, daß nach all den extremen Belastungen durch das Strafverfahren, die Claudia überstanden hat, sie nun erneut all dies wieder erleben muß. Es ist nicht an uns, Vorwürfe zu machen, gewiß hat niemand außer den Tätern Schuld zu verantworten, aber wir sehen, daß hier eine junge Frau, die schon als Kind Opfer schlimmster Gewalt wurde, im Rahmen rechtsstaatlicher Verfahren an die Grenzen des ihr erträglichen kommt und keine Wahlmöglichkeit hat.
30. Juli 1998
Wahrscheinlich möchten Sie auch wissen, wie es Claudia geht, von der wir Ihnen im letzten Brief erzählt haben. Claudia ist weiterhin in einer Klinik, es geht ihr nach wie vor sehr schlecht. Die Revisionsverhandlung ist für Herbst 98 terminiert. Wir werden Ihnen über den Verlauf und das Ergebnis berichten.
23.12.1998
Wir warten immer noch auf den Ausgang des zweiten Verfahrens gegen den Vater, den Bruder und Freunde des Bruders von Claudia, das zur Zeit in Köln stattfindet. In den letzten beiden Halbjahresgrüßen hatten wir über das erste Verfahren wegen des über mehrere Jahre stattfindenden sexuellen Mißbrauchs und die unterlassene Hilfeleistung durch die Mutter berichtet, das mit einer Verurteilung aller Angeklagten endete und dann wegen eines Verfahrensfehlers zur Revision zugelassen wurde. Claudia befindet sich in psychiatrischer Behandlung und zeitweise auch Unterbringung. Die Entscheidung des Gerichtes, ob sie im Verhandlungsraum aussagen muß, oder ob sie ihre Aussage vor einer Videokamera außerhalb machen kann, ist noch nicht gefallen. Zwischenzeitlich war Claudia auch schon zur Aussage geladen und erhielt dann telegrafisch Bescheid, daß der anberaumte Termin abgesagt sei. Claudia kann nicht an Aufarbeitung und Zukunftsplanung denken, solange das Gerichtsverfahren läuft. Es ist davon auszugehen, daß der Prozeß sich noch bis ins nächste Jahr zieht. Seit Ende 1996 muß Claudia alle Gegebenheiten dieses Verfahrens ertragen. Ihr Gesundheitszustand ist nach wie vor besorgniserregend.
01.07.1999
Fangen wir an mit der Geschichte von Claudia, über die wir Ihnen seit Dezember 1997 in jedem Brief berichtet haben.
Vater, Bruder und Freunde des Bruders waren angeklagt, Claudia über Jahre hinweg sexuell mißbraucht zu haben. Gegen die Mutter wurde wegen unterlassener Hilfeleistung verhandelt, das Gericht sprach eine Bewährungsstrafe aus. Der Vater wurde in erster Instanz wegen Vergewaltigung und Nötigung zu einer siebenjährigen Haftstrafe und der Bruder zu drei Jahren und sechs Monaten Jugendstrafe verurteilt. Die Freunde des Bruders erhielten Bewährungsstrafen. Vater und Bruder legten Revision ein, die Freunde des Bruders nahmen das Urteil an. Der Bundesgerichtshof hob die Urteile gegen Vater und Bruder wegen eines Verfahrensfehlers und das Urteil gegen die Mutter wegen Verjährung auf. Ein zweites Verfahren wurde angesetzt.
Claudia ist aufgrund der erlittenen Gewalt sehr krank und muß angesichts der Schwere ihrer psychischen Erkrankung und ihrer hohen Suizidgefährdung immer wieder in psychiatrischen Kliniken untergebracht werden.
Wir hatten sehr gehofft, Ihnen in diesem Halbjahresgruß mitteilen zu können, daß das zweite Gerichtsverfahren nun abgeschlossen sei und für Claudia keine Gerichtstermine mit all ihren Belastungen mehr anstehen.
Es sind inzwischen auch im zweiten Verfahren Urteile ergangen. Der Bruder hat ein Geständnis abgelegt, Claudias Aussagen bestätigt und erweitert und eine Bewährungsstrafe erhalten. Der Vater wurde wieder zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt und hat wieder Revision eingelegt. So ist das Verfahren auch jetzt noch nicht beendet.
Keiner der Beschuldigten hat je einen Tag in Haft verbracht.
Der Gesundheitszustand von Claudia hat sich während der Gerichtsverfahren immer weiter verschlechtert. Nachdem sie in ihrer Kindheit und Jugend Jahre der sexuellen Gewalt überlebt und psychische Abwehrstrategien entwickelt hat, die ihr dies möglich machten, werden diese einstmals hilfreichen Strategien nun unter veränderten Bedingungen zur Bedrohung für ihr
Leben. Zur Zeit wartet Claudia auf einen Platz in einer Klinik, die auf die Behandlung von traumatisierten Menschen spezialisiert ist.
Es ist dies das fünfte Mal, daß wir Ihnen von Claudia berichten, von ihrem Leben, das durch sexuelle Gewalt, die ihr Vater, Bruder und andere angetan haben, geprägt ist, von dem Schutz, den ihr die Mutter verwehrt hat, von dem Unfaßbaren, das sie überlebt hat und von unserer Angst, daß sie letztendlich doch nicht im Leben, am Leben bleiben wird.
30.12.1999
Fortsetzen müssen wir den Bericht über Claudia. Wir haben Ihnen in 5 Briefen die Geschichte von Claudia erzählt, die seit ihrer Kindheit über einen langen Zeitraum von Vater, Bruder und Freunden des Bruders vergewaltigt worden war. Das zweite von dem Vater betriebene Revisionsverfahren läuft zur Zeit noch. Claudia kann immer noch nicht mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte beginnen. Sie ist sehr krank. Ihr wurde über mindestens 5 Jahre sexuelle Gewalt angetan. Die gerichtliche Aufarbeitung geht inzwischen über drei Jahre. Die verurteilten Beschuldigten haben keinen Tag in Haft verbracht. Der Vater, der in zwei Verfahren schuldig gesprochen wurde, ist aufgrund der Revisionsverfahren ebenfalls die ganze Zeit ein freier Mann. Claudia, die stark suizidgefährdet ist, muss immer wieder in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht werden.
30. Juni 2000
In vielen Briefen haben wir Ihnen von Claudia erzählt. Claudia versucht, nach Jahren der Sexuellen Gewalt, die Vater, Bruder und Freunde des Bruders ihr angetan haben, ein eigenes Leben aufzubauen. Ihre Mutter, die wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war, sucht immer wieder den Kontakt zu ihr, ohne sich zu ihrer Schuld und Verantwortung zu bekennen. Der Bundesgerichtshof hat den Revisionsantrag des Vaters abgelehnt und das Urteil von 6 Jahren Haft bestätigt.
Wir werden von nun an nicht mehr über Claudia berichten. Für die neue Lebensphase nach dem Ende der Gerichtsverfahren braucht sie auch den Schutz der Anonymität.
10. Juli 2003
In der Regel ist es nicht schwierig zu entscheiden wie wir unseren Brief an Sie beginnen. Dieses Mal ist es anders, denn was uns, besonders die langjährigen Mitarbeiterinnen, zur Zeit vor allem beschäftigt, ist von solcher Intensität, dass wir einerseits das Gefühl haben wir dürfen es nicht einfach unvermittelt an den Anfang stellen und andererseits ist es so zentral für uns, dass es uns unpassend erscheint es als einen Abschnitt im Text unterzubringen.
Wir haben Ihnen in den letzten Jahren mehrfach von einer jungen Frau berichtet, die lange in unserer Beratungsstelle begleitet wurde und zu der wir auch danach noch Kontakt hatten. Zuletzt haben wir in unserem Brief vom 30. Juni 2000 von ihr erzählt. Damals schrieben wir, dass wir zum letzten Mal von ihr berichten, weil sie sich im Schutz von Anonymität ein neues Leben aufbauen wolle. Zu diesem Zeitpunkt waren ihr Vater, ihr Bruder und Freunde des
Bruders rechtskräftig wegen sexueller Gewaltdelikte gegen sie in ihrer Kindheit verurteilt worden.
Die junge Frau wohnte inzwischen in einem anderen Bundesland, wollte nie mehr nach Köln zurück und versuchte sich ihr eigenes Leben aufzubauen. Sie litt weiterhin unter massivsten Ängsten und war in ständiger psychiatrischer Behandlung. Medikamente und Therapie halfen ihr nicht. Erinnerungen quälten sie.
Ein weiteres Mal sollte sie sich im Mai einem Gutachten unterziehen. Ihr Bruder, der als Täter im Rahmen der Opferentschädigung Zahlungen leisten sollte, bezweifelte einen Zusammenhang zwischen der Gewalt, die er seiner Schwester angetan hatte, und ihrer psychischen Erkrankung.
So wurde sie ein weiteres Mal „begutachtet“ und gab Auskunft über sich, über das was man ihr angetan hat. Es war, so erinnern wir, wohl die vierte Begutachtung, Glaubwürdigkeitsgutachten, psychiatrische Gutachten. Die Gutachten waren immer eine große Belastung für sie, ungeachtet dessen, ob der Gutachter, die Gutachterin menschlich positiv von ihr erlebt wurden und das Ergebnis ihre eigenen Aussagen unterstrich.
Am 11. Mai hat sie sich im Alter von 26 Jahren vergiftet.
Wir sagen bewusst nicht, sie hat sich das Leben genommen, denn wir denken, das Leben haben ihr die genommen, die ihr sexuelle Gewalt angetan haben!
Sie hat gekämpft und versucht sich ein anderes, ein neues Leben aufzubauen, zu verarbeiten, zu vergessen. Aber der Schmerz und die Angst waren zu mächtig.
Wir haben uns von ihr mit einer Feier in einem Rosengarten verabschiedet, wir haben einander von ihr erzählt, Erinnerungen ausgetauscht und auch an die Seite ihrer Persönlichkeit gedacht, die mit einem beeindruckenden Maß an Selbstironie ihre „Verrücktheit“ beschreiben konnte.
Wir werden sie nicht vergessen.
Ihre Freundin Irene hat ihr ein Gedicht geschrieben, das wir hier veröffentlichen dürfen:
„Weine kleines Kind, wenn es dir zumute ist
Weine kleines Kind, weine, weil du alleine bist
Weine kleines Kind, weine, weil kein Trost für dich da ist
Weine kleines Kind, weine, weil du kein Kind mehr bist
Weine kleines Kind, weine, weil es noch nicht zu Ende ist
Weine kleines Kind, weine, weil du nie eine Erwachsene sein wirst“