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Eine künstlerische Auseinandersetzung gegen sexualisierte Gewalt

Prof.’in Dr. Sabine Andresen
Goethe-Universität Frankfurt/Main
Kindheits-. Armuts- und Familienforschung, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs


»Wie viele Perlen hat das Glück«

Kunst und ihr Potenzial, sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche öffentlich zu machen

„Wie viele Perlen hat das Glück“ und wie fragil ist es, wenn Kinder sexuelle Gewalt erfahren. Die Künstlerin Renate Bühn zeigt in gedeckten Ölfarben das in sich versunkene Mädchen. Es reiht Perlen auf eine Schnur, am Rand des Bildes ist ein Aschenbecher sichtbar. Farben und Komposition, die Haltung und der Gesichtsausdruck des Kindes signalisieren den Ausnahmezustand in der scheinbaren Normalität.

Wie schwer es ist für die erlittene sexuelle Gewalt als Kind, aber auch als erwachsener Mensch eine Sprache zu finden, wie viele Anläufe ins Leere laufen, weil dem Kind nicht zugehört und geglaubt wird, das scheinbar normale Familienleben weiter geht, hinterlässt viele Nadelstiche in der Seele eines jungen Menschen.

Nadeln, das sind ebenfalls Elemente der Kunst Renate Bühns. Durch die Komposition von 4000 Stecknadeln angeordnet auf Schaumstoff zu einem lateinischen Gebet, werden die Schmerzen von betroffenen Menschen, die sexuelle Gewalt erleben mussten, zu Nadelstichen für uns alle.

In dem Zyklus „Lavabo“ bezieht die Künstlerin sich auf die Erkenntnisse aus dem Abschlussbericht der Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für Opfer sexuellen Missbrauchs. In dem wurde herausgearbeitet, dass Priester religiöse Rituale nutzten, um sich das Vertrauen der Kinder, ihrer Opfer, zu erschleichen. Es ist die Kunst, die es hier vermag, das bizarr Verlogene aufzudecken: „In Unschuld will ich meine Hände waschen“ – das Gebet, das auch ein Täter oder Mitwisser als Priester regelmäßig spricht.

Renate Bühn ist als Künstlerin zugleich auch Aktivistin. Ihre Kunst dokumentiert das Erleben von Betroffenen, die Strukturen sexistischer gewaltvollen Strukturen in unserer liberalen Gesellschaft und sie fordert  aus einer feministischen Haltung eben diese Gesellschaft dazu auf, zuzuhören, hinzuschauen und die satte Ignoranz zu überwinden.

Die Besucher*innen ihrer Ausstellungen lässt das nicht kalt. Das zeigt das Gästebuch, in dem die individuellen Reaktionen, Gefühle, Ausdruck von tief empfundenem Mitgefühl ebenso wie Anzeichen von Abwehr zur Sprache kommen können. Hier schreiben auch Betroffene, wie sie die Ausstellungen erleben. Viele finden sich und ihre Erfahrungen in den Arbeiten von Renate Bühn wieder.

Und das ist das besondere Moment in dieser Kunst: sexualisierte Gewalt wird „zur Sprache gemacht“ durch die Kraft des Symbolischen, durch die Anmutung fragilen Alltags, der nur auf der Oberfläche noch Züge des Normalen trägt. Dadurch aber wird sexualisierte Gewalt auch besprechbar, und zwar sowohl als Zwiegespräch mit mir selbst, der Betrachterin, als auch durch den Dialog mit anderen.

Dies sind Voraussetzungen für die Aufarbeitung von Unrecht, das Kinder und Jugendliche durch sexualisierte Gewalt erleben. Leid und Unrecht resultieren auch aus dem häufig erfahrenen Mangel an Hilfe und Unterstützung und reichen ins Erwachsenenalter hinein. Gerade die Diskriminierung und Stigmatisierung von Betroffenen bringen Menschen oft zum Schweigen.

Renate Bühn arbeitet vor diesem Hintergrund stellvertretend für betroffene Menschen an Sprache und Sichtbarkeit ebenso wie an gesellschaftlicher Anerkennung und Verantwortungsübernahme. Lange vor 2010 und der seither deutlich gestiegenen Aufmerksamkeit für sexualisierte Gewalt hat sie mit ihrer Kunst deren Ursachen und Folgen eindringlich vor Augen geführt, buchstäblich sichtbar gemacht. Schon seit 1986 fordert sie zu einem öffentlichen Diskurs über sexualisierte Gewalt und über das Schweigen darüber in der Gesellschaft heraus. Dies ist ihr gelungen, weit über 60.000 Menschen, darunter viele Schüler*innen, haben ihre Werke seither gesehen. Viele von ihnen werden Bühns Thematisierung von sexualisierter Gewalt mit anderen diskutiert haben. Vielleicht führen Betrachtung und Rezeption auch zu einem respektvollen und verantwortlichen Handeln gegenüber betroffenen Menschen.

Kunst ist auch Ästhetik und entwickelt wie die Krawatteninstallation eine besondere ästhetische Kraft. Gleichwohl handelt es sich bei den Arbeiten Renate Bühns nie um die Ästhetisierung von Gewalt und daraus resultierenden Leids. Ihre Herstellung von Öffentlichkeit durch Kunst ist ein politisches und ethisches Statement. Sie sensibilisiert und schafft Zugänge für Menschen, die bislang nicht gesprochen oder nicht zugehört haben.

Ein Ziel gesellschaftlicher Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs liegt auch in einem Zugang zu Erinnerungen und in der Etablierung einer Erinnerungskultur. Aufarbeitung will und muss Anerkennung und Gedenken auf den Weg bringen.[1]

Unrecht und Leid, das Menschen durch sexualisierte Gewalt erfahren haben, muss wach bleiben. Auch dazu trägt Renate Bühns Symbolsprache bei. Mit der führt sie vor Augen, wie nach wie vor machtvolle patriarchale Strukturen ihre Bedeutung haben, von Gewicht sind, erdrücken können. Dieses Gewicht erfasst die Betrachterin der Krawatteninstallation nicht nur intellektuell, sondern physisch und affektiv. Die alltäglichen Artefakte wie Krawatten, Oberhemden, aber auch ein Schaukelpferd sind Ankerpunkte für die Aufrechterhaltung von Normalität. Als Teil künstlerischer Installationen verweisen sie auf das alltägliche Wegsehen, Verschweigen und auf das Ausbleiben von Trost und Schutz.

In diesem Sinne ist Renate Bühns Kunst Sprache und Form der Kritik an gesellschaftlicher Ignoranz und zögerlichem Handeln. Wie dringend dieses öffentliche Handeln für den Schutz von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft nach wie vor nötig ist, zeigen ihre Objekte, die an Mädchen und Frauen erinnern, die nicht mehr sprechen können. Sie tragen den Namen an den Folgen sexualisierter Gewalt verstorbener Mädchen und Frauen und verleihen Würde.

Renate Bühn trägt dazu bei, dass wir diese Menschen nicht vergessen. In ihren künstlerischen Arbeiten und Ausstellungsprojekten liegen die besondere Kraft und das Potenzial für Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und Prävention in unserer Gesellschaft.

 

[1] Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, deren Vorsitzende Sabine Andresen von Januar 2016 bis September 2021 war, untersucht seit Januar 2016 Ausmaß, Art und Folgen von Kindesmissbrauch in der Bundesrepublik Deutschland und der ehemaligen DDR. Die Kommission soll Strukturen aufdecken, die sexuelle Gewalt in der Kindheit und Jugend ermöglicht haben und herausfinden, warum Aufarbeitung in der Vergangenheit verhindert wurde. Darunter fällt nicht nur sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen in Institutionen, sondern gleichermaßen in Familien, im sozialen Umfeld, durch Fremdtäter oder im Rahmen von organisierter sexueller Ausbeutung. „Wir hören zu, damit sich für Betroffene und Kinder etwas verändert. Aus unseren Erkenntnissen werden wir Handlungsempfehlungen an die Politik übermitteln und in die Gesellschaft einbringen. Wir werden darlegen, was geändert werden muss, damit sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen zukünftig verhindert wird.“
Quelle: https://www.aufarbeitungskommission.de (06.08.2017)